Im Gespräch mit...

Im Gespräch mit Herbert Renz-Polster

2. Januar 2019

Heute habe ich mich mit Herbert Renz-Polster für ein Gespräch verabredet. Ich habe einige seiner Bücher im Regal stehen, seine Inhalte inspirieren mich und helfen mir enorm, Kinder zu verstehen. Er ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor. Ich habe mich so gefreut, dass er sich Zeit für ein Gespräch genommen hat und vor allem mit mir über unser Bildungssystem gesprochen hat:

Kinderwärts: Die Basis Ihrer Bücher ist die Berücksichtigung der Geschichte der Menschheit.
Ein Satz aus Ihrem Buch „Menschenkinder“ lautet:  „Eine Generation, die zunehmend in den besten Lebensjahren mit Burn-Out zu kämpfen hat, entwirft für ihre eigene Kinder einen Lebensweg mit noch mehr Tempo…!“ Was denken Sie, warum das so ist? Ist das auch evolutionsbiologisch zu erklären?

Herbert Renz-Polster: Evolutionsbiologisch kann man erklären, dass Eltern sich grundsätzlich das Richtige für ihre Kinder wünschen und sie für die Zukunft rüsten möchten. Eltern wollen, dass ihre Kinder einmal erfolgreich im Leben bestehen können. Wie das jeweils ausgefüllt wird und vor allem die Vorbereitung auf diese Zukunft, ist eine kulturelle Ausgestaltung, die mit der Evolution nichts zu tun hat.

In diesem Fall glaube ich, dass die Erziehungshaltung der Eltern sehr viel mit Angst zu tun hat. Ich glaube auch, dass diese Angst berechtigt ist. Das Problem könnte man so fassen, dass Eltern in ihrer Angst die falsche Lösung als die richtige ansehen. Sie hetzen ihre Kinder auf ein Ziel hin und sehen dabei nicht, dass die Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft eigentlich anders aussehen sollte.

Ich finde auch, dass eine große Unsicherheit und auch viel Angst vorherrscht.

Um die Angst zu verstehen, muss man ein Stück zurück blicken. Wie sind Kinder in der Nachkriegszeit groß geworden, die wir heute als Wirtschaftswunder bezeichnen? Es war eine wundersame Zeit, weil es immer aufwärts ging. Ich kenne diese Zeit, weil ich in ihr groß geworden bin. Eltern waren nicht lockerer, überhaupt nicht. In der Nachkriegszeit mussten Kinder mit dem Programm gehen, wir hatten in dem Sinn wirklich keine lockeren Eltern. Wir sollten auch in der Schule möglichst gut und brav sein und vor allem Manieren haben.

Brav sein war wichtig, und wie!

Aber trotzdem hatten wir unglaublich viel Freiheit: Die Schulzeit war deutlich kürzer als heute, die Zeiten in den Institutionen war insgesamt viel geringer. Ja, vielleicht hatte man noch eine halbe Stunde Klavierunterricht am Nachmittag, dann aber raus auf die Straße, die Felder, die Baugruben.  Man verbrachte die Zeit in informellen Kindergruppen, Gruppen ohne Ziele, die wir uns selbst zusammen gestellt haben. Das war eine andere Sozialisation. Natürlich,  die Kinder mussten auch „funktionieren“. Aber sie hatten auch Raum, Zeit und Gelegenheit für Eigensinn und die Entwicklung von Eigenverantwortung.

Man hat den Kindern mehr vertraut! Aber es war ja auch keine einfache Zeit für die Eltern, oder?

Die Eltern hatten einen wahnsinnigen Optimismus. Das gab ihnen ein ganz anderen Rückgrat im Leben. Die Zeit war geprägt von einem großen Optimismus, teilweise irrsinnig anmutend, wenn man das heute betrachtet, ich sag nur „unser Freund das Atom…“.

Aber die Aufzüge in der Gesellschaft sind eigentlich alle nach oben gefahren. Alle Eltern konnten nach vorne blicken: „Meinen Kindern wird es mal besser gehen wie mir“. Das war in allen Lebensbereichen so: Das Einkommen stieg jedes Jahr, die Rentensicherheit war hoch und Kinder die einen Schulabschluss hatten, bekamen eine gute Ausbildung. Die Kinder mussten nur irgendwie zu den Aufzügen kommen und die sind nach oben gefahren.

Es gab nicht diese Angst, sondern eher das Grundgefühl „das passt schon, alles wird gut“.

Die Kinder durften sein, wie sie waren, Hauptsache sie erfüllten ihr Bildungsprogramm. Dazu gehörte übrigens auch die Hauptschule. Das war damals ein anerkannter Abschluss, damit konnte man beispielsweise Handwerker werden, es hatte nicht diesen niederen Wert wie heute. Unser Nachbar früher zum Beispiel war Facharbeiter, er hatte drei Kinder, ein Einkommen für die ganze Familie (!) und damit konnte er ein großes Einfamilienhaus bauen und einen Mercedes fahren.

Natürlich tat dieser Optimismus den Eltern gut! Natürlich sorgte der für Entspannung, „wird schon werden“ war die Devise! Und mit diesem Rückenwind konnten die Eltern auch den Kindern mehr Freiheit zugestehen. Und die Kinder haben absolut davon profitiert: Sie konnten in ihrer Sozialisation viel Selbststeuerung, viel Selbstverantwortung und einen eigenen Willen entwickeln, Dinge die man eben braucht, um fundamental gut im Leben zu stehen.

Und heute? Der Blick in die Zukunft ist ungewiss. Ich mache niemanden einen Vorwurf, wenn er sich Sorgen macht und sich fragt, wo geht der Aufzug hin? Wahrscheinlich nicht unbedingt nach oben, denn die Mittelschicht bröckelt, die leckeren Plätze in der Gesellschaft werden nicht mehr, sondern weniger.

Deswegen sagen sich die Eltern „Oh je, jetzt müssen wir hier dringend vor den Aufzügen drängeln und sehen, ob ich eine Abkürzung in der Schlange finde und meine Kinder nach vorne schiebe“. Oder sie hängen ihnen Mohrrüben vor die Nase. Also dieses ganze Förder-Wahn-Ding.

Sie meinen es ja total gut mit ihren Kindern… 

Aber natürlich doch! Aber das ist trotzdem eine falsche Interpretation der Dinge, die Kinder wirklich brauchen. Ob der Aufzug nach oben oder unten fährt, wird eben nicht dadurch beeinflusst, dass sich alle vor dem Aufzug nach vorne drängeln. Es ist einfach ein Riesen Stress wenn Eltern meinen, ihre Aufgabe sei es, noch das Letzte für sein Kind rauszuholen. Das ist letzen Endes mit dem Risiko verbunden, dass man das Kind schädigt. Und dass das Kind nachher im Aufzug zwar drin ist, aber keine Freude, keine Begeisterung hat. Es ist nicht für das gerüstet, was es eigentlich braucht in der Welt: Nämlich das Wissen, dass man das Beste aus seiner Situation machen kann, sogar wenn es mal nicht nach oben geht! Angst ist kein guter Ratgeber. Und Kinder wollen ja nicht nur für den Erfolg gerüstet sein, sondern für das Leben wie es ist.

Da wird es Widerstände geben, die Kinder werden scheitern, sie werden Krisen bestehen müssen. Ich würde den Eltern deshalb lieber sagen, dass wir die Kinder echt auf das Leben vorbereiten sollten.

Wie können wir das? Schule spielt dabei ja eine wichtige Rolle. Ich würde aber manchmal am Liebsten durch unsere Landen fahren und das komplette Bildungssystem dem Boden gleich machen…
Wenn ich Sie nun ins Bauteam holen würde und wir neue Schulen aufbauen würden, wie würden die aussehen? Würde Sie überhaupt wieder Schulen aufbauen?

Ja, ich würde wieder Schulen aufbauen. Ich glaube nicht, dass die Kinder zu Hause grundsätzlich besser lernen oder dass Kinder nicht in Einrichtungen gehen sollen, weil sonst die Bindung kaputt geht. Diese Einstellung haben ja die ein oder anderen Freilerner, gerade in den USA.

Ich würde Schulen aufbauen, die für Kinder funktionieren und sie eben auf das echte Leben vorbereiten. Basis müsste eine fundamentale Persönlichkeitsbildung sein, mit der sie im Leben bestehen können und nicht nur eine formale Selektion.

Meine Kritik an den Schulen richtet sich ganz zentral auf deren leider viel zu wenig diskutierten Auftrag. Da geht es doch nicht nur um die Vermittlung von Bildung. Ja, der Mythos der geht so, dass es um die Vermittlung von Bildungsinhalten geht, das allein stimmt aber einfach nicht.

In Wirklichkeit ist der Bildungsauftrag ergänzt und überlagert durch den Selektionsauftrag. Es geht um die Auslese, das heißt um die Vermittlung von Bildungstiteln. Und diese Titel wiederum sind Anrechtsscheine auf gesellschaftliche Plätze. Um die kämpfen die Kinder, deswegen macht die Schule den Eltern und den Lehrern allesamt eigentlich gar keinen Spaß.

Auch die Kinder wollen nicht einen wunderbaren Bildungsberg erklettern, sondern die Noten schaffen oder einfach die Schule schaffen. Alle müssen „was schaffen“ – wie das schon klingt: ich muss den Lehrplan schaffen, wie man das oft von Lehrern hört. Nein, das klingt nicht nach Freude.

Und weil es weder um Freude und im Grunde auch nicht wirklich um die gelernten Inhalte geht, ist es sehr vielen Eltern tatsächlich egal, was ihre Kinder in der Schule lernen, da könnte man Südchinesisch auf den Lehrplan nehmen, die würden sagen, Hauptsache mein Kind hat da eine eins.

Im zweiten Teil unseres Gespräches unterhalten wir uns über die neuen Schulen.Wir erzählen, wie wir sie uns wünschen und warum Beziehung so so wichtig für das Lernen ist.

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Foto 1 by Marco Kost.

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