Hui, also da ging es schon zum Teil ganz schön ab nach dem ersten Teil und bewies mir direkt, dass es WIRKLICH um ein polarisierendes und natürlich auch emotionales Thema geht. Heute geht es weiter mit ADHS Teil zwei. Wir widmen uns nochmal den Ursachen, der Frage nach Beweisen, Fehldiagnosen und wie man den Kindern helfen kann und ob dabei Ritalin die einzige Möglichkeit darstellt.
Ursache
Mit der Frage nach der Ursache habe ich im letzten Artikel geendet, beziehungsweise einen Break gemacht. Das Denkmodell von Hüther finde ich interessant, es ist ein Modell (von vielen anderen Denkmodellen). Es geht davon aus, dass das Kind von Geburt an wachsamer und stimulierbarer ist und das Agieren des Kindes geprägt, durch das Umfeld, dazu beiträgt, dass das Gehirn sich entsprechend entwickelt, da das dopaminerge System im Gehirn immer weiter wächst bzw. stärker ausgebaut wird. Für mehr Infos, klicke in den ersten Teil.
Schauen wir uns aber nochmal das Gegenmodell, die Dopamin-These etwas genauer an.
Die Dopamin-These unter der Lupe
Man geht also davon aus, dass es eine neurobiologische Funktionsstörung im Gehirn gibt.
In den Gehirnabschnitten, die für die Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle zuständig sind, ist das notwendige Gleichgewicht wichtiger Botenstoffe gestört. Diese sogenannten Neurotransmitter sind maßgeblich für die Informationsverarbeitung ankommender Reize verantwortlich.¹
Unser Frontalhirn ist zuständig für
– die Verhaltensregulierung
– für Entscheidungen
– Auswertung von Erfahrungen
– die gesamte Steuerung des Organismus.
Es steuert die Informationsverarbeitung all der Millionen Reize, die jede Sekunde auf uns einströmen. Diese werden gefiltert, sortiert, abgelegt, gelöscht oder weitergeleitet. Das setzt voraus, dass in unserem Gehirn eine Informationsverarbeitung und eine Selektion nach Prioritäten stattfinden. Funktionieren diese Filter nicht ausreichend, kommt es zu einer Art Kurzschluss.¹
Grund
Eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur anderen spielen die beiden Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin . Man geht davon aus, dass bei einer ADHS-Erkrankung Dopamin im Zwischenraum zwischen zwei Nervenzellen, dem sogenannten Synaptischen Spalt , nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht.
Die Unterversorgung mit diesem Botenstoff führt zu einer gestörten Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen. Reize werden nur schlecht und unzureichend gefiltert. Dadurch entsteht eine dauerhafte Reizüberflutung im Gehirn des Kindes. Die typischen Auffälligkeiten also, wie unaufmerksames, impulsives und hyperaktives Verhalten sind auf die Fülle einströmender, unsortierter Reize und deren mangelnde Informationsverarbeitung zurückzuführen.¹
Beweise?
Medizinisch hat man durch neue PET-Untersuchungen (Positronenemissions-Tomographie) nachweisen können, dass die vorderen Hirnabschnitte beim ADHS-Betroffenen weniger stark durchblutet sind. Es konnte auch eine geringere Nervenaktivität in bestimmten Hirnregionen nachgewiesen werden.¹
Wissenschaftler konnten belegen, dass sich bei ADHS Störungen am Dopaminrezeptor und auch am Dopamin-Transporter-Gen finden, so dass Dopamin in bestimmten Hirnarealen nicht ausreichend vorliegt, bzw. zu schnell abgebaut wird. Man konnte bis jetzt an verschiedenen Genen Veränderungen nachweisen.¹
Es ist wohl gesichert, dass der Neurotransmitter Dopamin zu schnell im synaptischen Spalt, seinem Wirkort, abgebaut wird. Aber die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt nur in aufwendigen Untersuchungen für die Forschung gemessen werden. Sie sind für die Patienten zu belastend und auch zu kostenintensiv. Dies bedeutet für die Betroffenen, dass es keine medizinischen Untersuchungen gibt, die ein ADHS an Hand von Laborwerten oder bildgebenden Verfahren eindeutig belegen können.¹
Dschungelfeeling
Diese (Dopamin-)These, wie auch Hüthers Gedanken und auch die ganzen anderen ADHS-Theorien, die umherschwirren, zu denen unglaublich viel geschrieben und geforscht wurde… am Ende ist noch keine Theorie wirklich bewiesen. Genau das löst bei mir auch dieses Dschungel Gefühl aus.
Und wie bereits beschrieben, finde ich den Ansatz (egal von welcher Ursache wir ausgehen) erstmal gut: das vitale Wesen des Kindes und die Impulssteuerung nicht nur als Fehlleistung zu sehen!
Zwischenfazit:
Wie es letztendlich zu dieser Störung gekommen ist und welche der vielen Meinungen und verschiedenen Forschungsergebnissen ich hundertprozentig glauben soll, ich weiß es nicht. Der Dschungel ist noch zu groß und zu unerforscht, gefühlt bleibt es bei einer kleinen Touristen-Safari. Vielleicht werde ich als Großmutter mehr, vielleicht alles dazu wissen.
Es gibt Menschen, die unter Problemen der Selbststeuerung leiden, das steht fest. Und ich glaube diese Kinder brauchen Hilfe, vor allem brauchen sie keine Ausgrenzung. Dazu im dritten Teil mehr. Aber ich glaube auch, es gibt Fälle, in denen viel zu schnell bzw. falsch ADHS diagnostiziert wird. Ich weiß, ich werde dafür Schelte bekommen. Ich denke, es gibt Lottas und Michels da draußen, die wirklich kein ADHS haben.
Fehldiagnose
Nach den Vorgaben nach ICD 10 gibt es einige Merkmale (siehe letzter Artikel) die vorliegen müssen, um die Diagnose ADHS stellen zu dürfen. Und hier scheint es wohl auch mit ein Grund für den starken Anstieg der Zahlen zu geben. Es werden scheinbar sehr viele Fehldiagnosen gestellt. So habe ich auch den Ausdruck „echtes und unechtes ADHS“ von einer Kinderärztin kennen gelernt, die meinte, dass sehr viele Kinder mit unechtem ADHS zu ihr kämen.
Ulrike Lehmkuhl, Direktorin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité findet bei einem von zehn Kindern, die zu ihr überwiesen werden, alle Merkmale für eine amtlich festgelegte ADHS Diagnose vor. Bei 90 Prozent dieser jungen Patienten diagnostiziert sie hingegen eine andere Verhaltensstörung oder psychische Erkrankung. ²
Auch Johannes Streif, Psychologe und stellvertretende Vorsitzende von ADHS Deutschland e.V. meint, dass die hohen Zahlen darauf schließen, dass überhäufig oder falsch ADHS diagnostiziert wird.³
Wieviel Schuld hat die Umwelt?
Was ist denn nun mit dem viel gehörten Vorwurf, dass ADHS nur von zuviel TV, Computer-Spielen und Smartphones kommt. Und die Kinder einfach mal mehr an die frische Luft müssten?
Die Fälle sind schon leicht angestiegen, sagt Johannes Streif. Das Gehirn eines Kindes, das beispielsweise mitten in New York aufwächst, passt sich an die Reizüberflutung an, es wird wachsamer auf die vielen Verkehrssignale reagieren als ein Kind vom Land.
Diese breite, unfokussierte Aufmerksamkeit sichert quasi sein Überleben. Diese frühkindliche Anpassung an die Reizfülle auch durch die heute allgegenwärtige Beschallung. Dabei geht es nicht nur um Smartphones, Fernsehen und Computerspiele. Auch das allabendliche Kinderhörspiel zum Einschlafen oder gut gemeinte Lernangebote können eine Überforderung des sich entwickelnden Gehirns darstellen.
Wer vielen Reizen ausgesetzt ist, hat auch eine größere Tendenz, eine ADHS auszubilden – allerdings nur, wenn eine Veranlagung vorliegt. ³
Auch Sonderpädagogik-Professor Georg Feuser (wiederum Gegner von Ritalin & Co) sagt: „Der moderne Alltag fordert den Kindern unglaubliche Leistungen ab. Was unsere Grosseltern in einem Jahr an Neuem verarbeiten mussten, müssen unsere Kinder in einem Tag. Unsere Zeit ist hektisch und umtriebig, man hat kaum Zeit füreinander. Wenn ein Kind auf seinem Schulweg fünf verkehrsreiche Strassen mit Ampeln überquert, hat es mehr geleistet als Goethe in der Kutsche auf dem Weg nach Sizilien.“4
Ich finde es absolut nicht fair, wenn manch einer einfach sagt, die Eltern haben das Kind nicht richtig erzogen, oder diese Kinder sollen das Handy weglegen, oder sich mehr bewegen, dann wird schon alles gut. Nein, wird es nicht!
Aber wodurch wird denn „alles gut“? Wie kann man Kindern mit ADHS helfen?
Wie kann man den Kindern helfen?
Ich kenne Kinderärzte, die Ritalin nur mit ganz engmaschiger Betreuung, Therapie und den Gesamtblick aufs Umfeld verschreiben. Ich kenne auch Ärzte, die sehr schnell als einfache Lösung zum Rezeptblock greifen. Ich kenne Eltern, die einfach nur froh sind, dass endlich eine Lösung gefunden ist. Ich kenne Eltern, die sehr unglücklich sind und lange überlegen, wie sie es machen sollen. Ich kenne Kinder, die mich angebettelt haben auf z.B. Freizeitfahrten nicht ihre Ritalintabletten nehmen zu müssen. Ich kenne verunsicherte Eltern, ich kenne überzeugte Eltern. …
Ich kenne viele Fälle, na logisch, denn ich arbeite als Pädagogin. Die Zahlen sind keine Zahlen auf dem Papier, sondern dahinter stecken echte Kinder. Irgendwo sind sie ja. Sie sind mitten unter uns.
Ritalin
Man kommt leider nicht drum herum, etwas zu diesem Thema zu schreiben. Mir wurde schon im Vorfeld des zweiten Teils alles mögliche diesbezüglich vorgeworfen. Hatte ich mich im letzten Artikel zwar noch gar nicht zu Ritalin geäußert, wurden mir trotzdem schonmal (präventiv 😉 ) einige Nachrichten geschrieben, dass Ritalin dem Hirn nachweislich gar nicht schaden würde. Oder dass es dem Hirn und überhaupt der ganzen Welt schaden würde.
Man darf nicht dafür, man darf nicht dagegen sein. Das ist ein bisschen nervig, aber das Thema polarisiert. Und ich denke, die erschreckende wachsende Zahl der Diagnosen und Verordnungen veranlassen uns dazu, so extreme Meinung zu bilden.
Aber ich finde, dass der Fokus sehr stark auf dieser Art der Lösung liegt. Ich würde mir wünschen, dass auch andere Lösungsansätze noch mehr in den Fokus rücken würden.
Neutrale Fakten
Die am häufigsten eingesetzte Medikamente sind die mit dem Wirkstoff Methylphenidat (z.B. Ritalin) und Atomoxetin (z.B. Strattera).**
Der Wirkstoff stimuliert die Freisetzung von Dopamin und hemmt seine Aufnahme.
Was genau sind Stimulanzien?
Stimulanzien sind eigentlich Aufputschmittel. Deshalb unterliegen sie dem Betäubungsmittelgesetz, und Ärzte dürfen sie nur unter sehr stark kontrollierten Auflagen auf besonderen Rezepten verschreiben. Zu der Gruppe der Stimulanzien zählen auch Ecstasy, Amphetamine und Appetitzügler. Während Menschen ohne ADHS bei Einnahme dieser Medikamente viel Energie entwickelt und geradezu euphorische Räusche erleben können, reagieren ADHS-Betroffene auf Stimulanzien paradox. Sie werden ruhiger, gelassener, zentrierter, und sie scheinen mehr inneren Frieden zu finden. Ihr Gehirnstoffwechsel normalisiert sich unter dieser Medikation, denn Stimulanzien gleichen den Dopaminmangel im Gehirn aus.¹
Die Entscheidung über die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung muss von einem Arzt und immer im Einzelfall entschieden werden. Dazu gehört jeweils eine gesicherte Diagnose, sowie eine ausführliche Beratung und intensive Begleitung.**
Insbesondere gilt für Methylphenidat-haltige Arzneimittel, dass vor ihrer Anwendung erst anderweitige Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden sollten. Dies sehen auch die Fach- und Gebrauchsinformationen dieser Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses vor.**
2013 wurden 2 Tonnen pro Jahr verschrieben.
Gegenwärtig gibt es weltweit schätzungsweise zehn Millionen Kinder, bei denen die Diagnose Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität gestellt worden ist und die mit Ritalin oder einem anderen Amphetamin-Präparat behandelt werden.
Damit schließe ich das Thema Ritalin & Co, weil es sonst ein 15-teiliger Blogpost würde. Es gibt dazu noch sehr viel zu sagen. Sind diese Medikamente schädigend oder sogar präventiv gut gegen bestimmte andere Krankheiten? Wie wirken sie ganz genau im Detail? Was sind die Nebenwirkungen? etc. etc. etc. Wenn es euch interessiert, googelt euch durch den Dschungel, es gibt auch hier massig viele Infos und tausend Meinungen dazu.
Was NICHT SEIN DARF steht für mich fest: LehrerInnen und ErzieherInnen dürfen Eltern und Kinder nicht dazu drängen Ritalin zu nehmen!!! Denn das geschieht zu oft! Dazu im nächsten Teil mehr.
Therapie
Sehr lange, wusste man nicht, dass psychotherapeutische Behandlungen (unabhängig von der ADHS Thematik) nachhaltige und strukturelle Veränderung im Gehirn auslösen können. Jede intensive menschliche Begegnung, jede neue Erfahrung die wir machen, verändert uns nicht nur psychisch sondern auch biologisch. Unser Gehirn wird verändert.
Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren konnte man nachweisen (erstmals bei Erwachsenen), dass sich durch geeignete psychotherapeutische Behandlung eine Umorganisation und Umstrukturierung im Gehirn erreichen lässt. Für Kinder gilt das umso mehr, da deren in der Entwicklung befindlichen Gehirne noch viel plastischer und verformbarer sind.*
Es gibt eine Menge an Therapiemöglichkeiten. In vielen Fällen wird auch beides gemacht, eine medikamentöse Behandlung mit ergänzenden therapeutischen Maßnahmen. Ich habe aber allerdings sehr viele Kinder kennen gelernt, die „nur“ Ritalin nehmen. Das, finde ich, darf nicht sein! Eine ganz gute Übersicht über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten gibt es z.B. hier. Es gibt Konzentrations- und Entspannungstraining, Ergotherapie, Verhaltenstherapie und vieles, vieles mehr.
Aber
Ich bin keine Therapeutin, Ärztin oder Heil-, Physio-, oder Ergotherapeutin. Ich bin Anna und arbeite direkt mit Kindern in der Schule, Kita bzw. in der ergänzenden Betreuung. Die große große Frage, die ich mir stelle und weshalb ich überhaupt zu diesem Thema schreibe ist: Wie kann ICH diesen Kindern helfen??? Das wichtigste ist wohl, Verständnis für die Kinder zu entwicklen. Wenn du dich nun tapfer durch diese beiden ersten recht theoretischen Teile gekämpft hast, Glückwunsch :)! Im nächsten Teil schauen wir uns ENDLICH an, was im pädagogischen Alltag tun können, überlegen, wie es den Kindern ergeht und werden ganz praktisch. Werfen nochmal einen Blick auf das soziale Umfeld, Zusammenhänge und auf mein Lieblingsthema Bindung und Beziehung. 🙂 Ich hoffe, wir lesen uns auch im dritten Teil.
Literatur:
¹ Homepage des ADHS Zentrum München
² Artikel der Uni Würzburg: ADHS Durchaus ein gesellschaftliches Problem (Relativ kurzer, lesenswerter Artikel von zwei Professoren des Lehrstuhls für Pädagogik bei Verhaltensstörungen)
³ Interview mit Johannes Streif, Psychologe und stellvertretende Vorsitzende von ADHS Deutschland e.V
4 Interviews mit Sonderpädagogik-Professor Georg Feuser
* Buch von Gerald Hüther/Helmut Bonney: Neues vom Zappelphilipp
** Heft der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ADHS – was bedeutet das? Broschüre für PädagogInnen und Eltern. Kann man hier kostenfrei bestellen.
Artikel der FAZ: Deutschland zappelt weniger
3 Comments
Liebe Anna,
gerade habe ich zum ersten Teil etwas geschrieben.
Und zu Methylphenidat mag ich eigentlich gar nichts schreiben. Warum? Weil MPH eigentlich bei jeder ADHS Diskussion im Mittelpunkt steht.
Ich versuche immer wieder Menschen zu vermitteln, dass ADHS und MPH nicht zwangsläufig zusammengehören. Aber auch hier hat der Hype um das Thema kräftig zugeschlagen und „Ritalin“ ist immer wieder Hauptthema.
Du hast hier beide Seiten kurz beleuchtet, was ich gut finde. Und ich danke dir dafür, dass du nicht auf den Eltern herumtrampelst!!!
Was mich irritiert: Du schreibst wiederholt, dass du sehr viele betroffene Kinder kennst und vor allem sehr viele, die Ritalin als alleinige Therapie bekommen.
Das macht mich stutzig. Einmal, weil du mir noch sehr jung erscheinst – vielleicht schaust du ja nur so aus 😉
Wo und wie hast du denn diese vielen Kinder persönlich so genau kennengelernt?
Ich beschäftige mich seit mind. 10 Jahren mit dem Thema und kenne kein einziges Kind, dass nur mit MPH behandelt wird. Ich kenne sogar viele, die gar kein MPH bekommen. Ganz davon abgesehen, sagen die Leitlinien für die verschreibenden Ärzte auch ganz klar, dass eine Therapie nicht allein mit Stimulanzien sondern nur im Rahmen einer multimodalen Therapie durchgeführt werden dürfen.
Sicherlich gibt es Fehlverordnungen. Allerdings hat sich in den letzten 10 Jahren viel getan. Es gibt die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie, es gibt Kompetenznetzwerke.
Und wäre das Internet nicht so überflutet von Falschmeldungen zum Thema, die sich immer in den Vordergrund drängen, gäbe es auch dort genug Wissen für Betroffene, Familien, Erzieher und Lehrer. Man muss bloss danach ein wenig suchen. oder man liest einfach Bücher zu dem Thema!
Kannst du dir vorstellen, wie es mir als Kind, aufgewachsen in den 60er Jahren ging? Ich habe ein Leben lang mit mit Symptomen und Komorbiditäten gekämpft. Als Kind hat mir niemand geholfen. Meine Diagnose bekam ich erst mit über 50. Mein Sohn (geboren 1989) übrigens auch erst mit 18. Wir hätten uns viel Schmerz, Leid und negative Erfahrungen ersparen können, hätten wir das alles früher gewusst.
Und darum ist die richtige und rechtzeitige Aufklärung so wichtig!
Ich finde es jedenfalls ganz toll, dass du dir Gedanken machst und dich fragst, was du tun kannst, um betroffenen Kindern zu helfen. Chapeau!
Liebe Carolina,
ich bin auch noch jung ;). Arbeite allerdings seit 14 Jahren mit Kindern und Jugendlichen zusammen und habe in dieser Zeit viele Kinder kennen gelernt 😉 Und auch in vielen verschiedenen Einrichtungen gearbeitet. Und ja, ich habe das wirklich öfter erlebt.
Es stimmt, es gibt so viele falsche Infos und viel falsche Beratung. Wie gut, dass du dich dem Thema verschrieben hast!!
MEIN Hauptanliegen ist vor allem das Verständnis für die Kinder und eine inklusive Haltung! Deswegen ist Teil 3 auch mein wichtigster Teil. Aber es haben mir jetzt auch schon einige Eltern geschrieben, dass sie sich eben so einen Teil für Eltern und zu Hause wünschen. Was wären vielleicht Tipps von dir, was wichtig „für den Umgang zu Hause“ ist?
Liebe Anna,
es ist sehr schwer den Eltern allgemeine Tipps für zuhause zu geben, denn es kommt sehr auf die jeweilige Situation an.
ADHS hat so viele Facetten, es ist nicht immer nur das impulsive, auffällige Kind. Daher kann jedem Kind und jeder Familie nur individuell geholfen werden.
Eine alleinerziehende und berufstätige Mutter hat ganz andere Herausforderungen, als eine Familie, wo vielleicht die Mutter nicht berufstätig ist und mehr Zeit hat, sich um den ADHSler zu kümmern.
Dazu kommt ja, dass es in einer Familie praktisch nie nur einen von ADHS Betroffenen gibt. Meist ist ja auch ein Elternteil betroffen. Viele wissen das bloß selbst nicht.
Daher ist das Wichtigste, sich so gut, wie möglich zu informieren, was ADHS ist und was es bedeutet. Und eben auch bei sich selbst zu schauen, sich also auch mit Erwachsenen-ADHS zu befassen. Wenn die Eltern selbst ADHS-Menschen sind, stehen sie noch einmal vor ganz anderen Herausforderungen.
Es muss eine gesicherte ADHS-Diagnose bestehen. Das Kind muss wirklich die anerkannte Diagnostik durchlaufen. Ich höre doch immer wieder in Gesprächen, wenn ich nachfrage, dass ein Kind ADHS haben soll, aber keine wirkliche Diagnose bei einem Facharzt gemacht wurde. Gespräche mit einem Psychiater, Psychologen, Erziehungsberater oder Kinderarzt reicht nicht aus!
Bei ADHs gibt es in der Regel zusätzliche Probleme und Komorbiditäten: LRS (Lese- Rechtschreib-Schwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche), Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Trotzverhalten, Asperger-Autismus, Tic-Störungen, Tourette-Syndrom, motorische Entwicklungsverzögerungen, Angststörung, Zwangsstörungen.
Eltern sind bei einem ausgeprägten ADHS überfordert. Es kostet unglaublich viel Kraft. Und daher muss man das Miteinander in der Familie lernen.
Das Wichtigste, was man lernen muss, ist Kommunikation. Man muss reden lernen bzw. Schweigen. Mit ADHS-Kindern kann man nicht reden und diskutieren. Die reden einen selbst in Grund und Boden. Sie spüren besser, weil Gesprochenes oft gar nicht ankommt. Und deshalb ist Handeln besser. Konsequenz ist das A und O und eben auch sehr schwer. Das Kind lernt nur dann die Eltern ernst zu nehmen, wenn die sich selbst ernst nehem und zu dem stehen, was sie sagen.
Die wenigsten Familien schaffen es ohne Hilfe. Und man sollte sich so früh, wie möglich professionelle Hilfe holen. Mittlerweile gibt es gute ADHS-Coaches. Und auch Selbsthilfe-Gruppen sind eine tolle Unterstützung.